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Schreibatelier Frölich

Michaela Frölich - Publizistin M.A.

Erinnerungen bauen Brücken

Erinnerungen verbinden – sie bauen Brücken und schaffen ein Miteinander. So geschehen bei der Lesung am 18. Juli 2022 in der Budge-Stiftung…


Als ich im Auftrag der „Henry und Emma Budge-Stiftung“ vor mehr als drei Jahren, im Juni 2019, in der „Offenen Kirche“ die Bewohnenden eingeladen hatte, auf das jüdisch-christliche Zusammenleben unter dem Dach der Stiftung zu schauen, wusste ich nicht, wie offen, die Teilnehmenden an diesem Nachmittag und an den Folgeveranstaltungen mit ihren Wahrnehmungen umgehen würden. Diese und weitere Erinnerungswerkstätten dienten der Vorbereitung auf das 100-jährige Jubiläum der Budge-Stiftung, das 2020 feierlich begangen werden sollte. Die Stimmen derer, die dort leben, sollten gehört und bewahrt werden.

In jenem ersten Treffen konzentrierte ich mich darauf, zu erfahren, wie die Teilnehmenden auf das Alten- und Pflegewohnheim aufmerksam geworden waren, warum sie sich entschieden hatten, dorthin zu ziehen, und wie sie die erste Zeit im Haus wahrgenommen hatten. Eine Frau Mitte 70, eine der jüngeren Bewohnerinnen, meinte:

„Ich erinnere mich daran, dass ich mit noch fremden Bewohnern zusammensaß. Ich sagte mir damals, dass es irgendwie eine Schicksalsgemeinschaft ist.“

Religiöse Symbole vom Davidstern bis zum Kelch, von der Menora bis zur Taube, die als Gesprächsimpulse ausgewählt werden konnten, animierten tiefer in die Erinnerungen an die ersten Tage in der Budge-Stiftung einzutauchen. Mit einem Lächeln kommentierte eine 88-Jährige das Symbol des Regenbogens:

„Der Regenbogen verbindet alle Menschen. Er steht für Freiheit und hier für mich für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft.“

Wie wunderbar das Sinnbild des Regenbogens zum Stiftungszweck der Budge-Stiftung passt, ein prächtiges Naturphänomen, das Himmel und Erde, und viele Farben in einem Bogen miteinander verbindet. Auch das Schiff, als Bild für Freiheit und die Weite der Welt, oder die Taube, als Symbol des Friedens, war neben vielen anderen ein gern gewähltes Motiv. Anhand der Symbolkarten konnte ein Kaleidoskop an Gedankenstreiflichtern miteinander geteilt und schriftlich festgehalten werden.

„Die Stiftung bezweckt die Fürsorge für erholungsbedürftige Männer, Frauen und Kinder, insbesondere für von Krankheiten genesende ohne Unterschied des Geschlechts, des Alters und des religiösen Bekenntnisses.“

Zur Geschichte der Henry und Emma Budge-Stiftung

Henry Budge gründete 1920 anlässlich seines 80. Geburtstages die Henry und Emma Budge-Stiftung in Frankfurt am Main. 1930 konnte die erste Bewohnerin einziehen. 1941 musste die Stiftung aufgelöst werden, nachdem unter dem Druck der Zeit die jüdischen Mitbewohnenden vordem hatte ausziehen müssen. 1960 wurde in Frankfurt Seckbach ein Gelände erworben und nach einer mehrjährigen Planungs-und Bauzeit konnte 1968 ein neues Budge-Heim seine Toren öffnen, das 2003 mit einem weiteren Neubau modernisiert werden konnte. Ein stiftungsinterner Arbeitskreis „Erinnern und Gedenken“ und die Errichtung einer Gedenkstätte tragen Sorge dafür, dass die Geschichte bewahrt werden kann.
(Siehe dazu: Volker Hütte: 100 Jahre Henry und Emma Budge-Stiftung in Frankfurt am Main. 1920-2020. Gründung – Auflösung – Wiedereinsetzung. Hrsg. v. Henry und Emma Budge-Stiftung, 2020.)

In weiteren Treffen sammelte ich Erinnerungen, wie das Zusammenleben im Alltag oder auch bei besonderen Anlässen wahrgenommen wird, welche Gelegenheiten es gibt, anderen zu begegnen, wie gemeinsam gefeiert oder der Vergangenheit gedacht wird, welche Orte in der Stiftung eine herausragende Bedeutung haben, welche Menschen in Erinnerung bleiben, welche Themen ausgetauscht werden, was bereichert, was als schwierig empfunden wird.

Ob beim Gang zum Briefkasten, beim gemeinsamen Essen, bei der Physiotherapie oder beim Gärtnern, die Möglichkeiten, anderen im Alltag über den Weg zu laufen, sind vielzählig. Eine Mitbewohnerin der Stiftung erinnert sich:

„Mich berührte eine 92-jährige Mitbewohnerin. Sie wohnt seit drei Jahren in der Budge-Stiftung, wo wir uns kennengelernt haben. Wir verstehen uns, haben die gleichen Ansichten, sind beide positive Menschen und lachen viel. Es tut gut miteinander zu sprechen oder etwas zusammen unternehmen. Sie versteht es, mein Temperament zu zügeln, weil sie nicht so spontan ist wie ich. Sie ist eine Freundin. Ich bin sehr dankbar, dass ich sie kennengelernt habe. Mir hilft ihre Art, anderen zu helfen. Sie ist eine Jüdin, lebensfroh, lustig, realistisch, einfach nett. Ein guter Mensch.“

Bei regelmäßig stattfindenden Angeboten, wie beim Filzen, Malen oder Musizieren, lassen sich die Kontakte vertiefen. Eine junge Mitwirkende unserer Schreibgruppe beschreibt das für sich so:

„Durch die Schreibwerkstatt habe ich noch stärker gelernt, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen und dadurch Probleme verarbeiten zu können. Ich bin dankbar dafür, aber vor allem für den Austausch mit den anderen innerhalb der Gruppe.“

Beim Sabbat oder dem sonntäglichen Gottesdienst und an den Feier- und Gedenktagen können zudem Unterschiede in der Lebensgestaltung jüdischer und christlicher Bewohner und Bewohnerinnen erfahren werden: ob in Kleidung, beim Essen oder Ausüben der religiösen Praktiken.

„Die Wohltaten der Stiftung sollen Juden und Christen je zur Hälfte zu Gute kommen.“

Nicht alles, was in den Erinnerungswerkstätten im Gespräch erörtert wurde, floss aufs Papier. Dennoch entstanden kurze und auch längere Texte, knappe Statements und Anekdoten zu Erlebnissen im Haus. Sie illustrieren, wie sich das Leben gestaltet, wenn Menschen im hohen Alter mit unterschiedlichen Biografien unter einem Dach zusammenleben. Eine beeindruckende Sammlung berührender Aussagen konnte festgehalten werden – offen, authentisch und mutig.

Eine Auswahl der Stellungnahmen wurde im Einverständnis mit den Verfasserinnen und Verfassern in einer Broschüre zum Jubiläumsjahr dokumentiert. Anfang Juli 2022, nachdem die geplante Lesung mehrmals wegen der Corona-Pandemie verschoben werden musste, war es endlich so weit: Die Broschüre konnte verteilt werden.

100 Jahre Budge Stiftung Cover
Broschüre zur Erinnerungswerkstatt "100 Jahre Henry und Emma Budge-Stiftung"

In einer Lesung gemeinsam mit aktiven Teilnehmerinnen der Schreibwerkstatt, die ich seit vielen Jahren in der Budge-Stiftung leite, stellten wir den Bewohnenden und Gästen des Hauses einzelne Texte vor. Es beeindruckte mich, wie souverän sie die Texte vortrugen, die zum Teil persönlich waren. Und gleichsam imponierte es mir, wie aufmerksam die zumeist hochaltrigen Gäste der Lesung folgten. Die anschließenden Begegnungen, in denen Inhalte nachgefragt, Gemeinsamkeiten entdeckt oder betont wurden, zeugen davon, dass Erinnerungen wortwörtlich Brücken zu anderen Menschen bauen können. Dann, wenn Erzählende und Zuhörende wahrnehmen, was verbindet und auch wie unterschiedlich das Leben verlaufen kann.

Jedes Leben ist einzigartig in der Fülle der Ereignisse, die den Lebensweg säumen, den menschlichen Begegnungen, die stattfinden und auch der individuellen Erfahrungen, die sich daraus entwickeln. Wenn wir es schaffen, offen aufeinander zuzugehen, einander aufmerksam zuhören, der Sinfonie des Lebens Gehör schenken, dann entsteht der Raum für Miteinander sein, für eine kurze oder eine längere Zeit, für eine bereichernde Zeit.

Eingerahmt war die Lesung, die im Rosl- und-Paul-Arnsberg-Saal in der Budge-Stiftung stattfand, von besinnlichen Klängen, gespielt vom Duo der Band „Evas Apfel“.